Lesbar - für alle, die Literatur auf Deutsch geniessen

"Jeder Mensch ist ein Abgrund“ – eine Szenenanalyse
aus Georg Büchners Woyzeck

Woyzeck muss beim Anblick Maries staunen. Nachdem der Hauptmann ihm die Augen für ein wahrscheinliches Verhältnis seiner Geliebten, viel mehr noch; der Mutter seines Sohnes mit dem Tambourmajor geöffnet hat, scheint er nun die Lage durchschaut zu haben. Und doch kann es nichts sehen: „Ich seh nichts, ich seh nichts. Oh, man müßt´s sehen, man müßt´s greifen könne mit Fäusten!“ Das Sehen und Blindsein ist in  Büchners „Woyzeck“ ein Motiv, das das ganze Geschehen begleitet. Mal ist es Woyzeck, der Escheinungen sehen will, die Andres mit den Augen nicht wahrnehmen kann, mal bietet der Marktschreier den Versammelten die Kunst zu sehen. Tambourmajor und Marie sehen sich einander und fühlen sich von ihren Äußeren angezogen. Auch die Worte Maries, die sie an ihr Kind richtet,  scheinen einen tieferen Sinn zu haben: „Was bist so still, Bub? Furchst dich? Es wird so dunkel; man meint, man wär blind.“ So stellt Marie selbst in dieser Szene fest: „Man kann viel sehn,  wenn man zwei Augen hat und nicht blind is und die Sonn scheint.“ und man kann der Vermutung nicht loswerden, dass sie damit Woyzeck bewusst provozieren will.


Woyzeck fühlt sich  nun betrogen: von Marie einerseits aber umso mehr von sich selbst und seinem Vermögen Dinge zu  s e h e n. Er macht Marie Vorwürfe und gleichzeitig nimmt er ihr die Verantwortung ab: „Wie, Marie, du bist schön wie die Sünde.“ Es sind also nicht Maries Taten, sondern ihre äußere Erscheinung, ihre Art, die sie aber nicht anders wählen kann, denn sie wurde ihr nun einmal gegeben – um Franz Kafka zu paraphrasieren-  die die Quelle des Lasterhaften ist.  „Kann die Todsünde so schön sein?“ - fragt sich weiter Woyzeck. Vielleicht denkt er dabei, ob Maries Natur nicht ein Grund genug sei, um einen Mord zu begehen, einen Mord, der sich gegen die Sünde richten würde und zugleich eine wäre.

Marie fürchtet sich vor Woyzecks Benehmen, das Anzeichen des Wahnsinns verrät. Vielleicht fürchtet sie sich jedoch viel mehr vor der Wahrheit über sie, die Woyzeck bewusst wird. Sei es deswegen, wird Marie die Gesellschaft Woyzecks unangenehm. Vielleicht muss sie sich noch an die Männlichkeit Tambourmajors erinnern, für die Woyzeck keine Konkurrenz sein kann. Obwohl sie später ihre Fehler selber einsieht, ist sie nicht gewillt eine Strafe vom Richter –Woyzeck entgegenzunehmen: „Ich hätt lieber ein Messer in den Leib als deine Hand auf meiner.“ Damit setzt sie ihr Leben aufs Spiel. Immerhin ist ihre Abneigung gegen Woyzeck groß genug und die Vorstellung, er hätte auf sie Recht wie auf ein Tier so unerträglich, dass sie dies zu sagen wagt.

Die Szene endet mit Woyzecks Erkenntnis, die nicht nur Marie gewidmet ist: „Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Es ist durchaus möglich, dass Woyzeck dabei auch sich meint. Es ist eine deutliche Umkehrung der optimistischen Menschenauffassung, nach der die Menschen von Natur aus gut sind. Woyzeck hat  im Menschen das Dunkle und Tiefe entdeckt, das Nietzsche als dionysisches Element bezeichnen würde. Dieser eine Satz ist für einen aufmerksamen „Woyzeck“-Leser zugleich eine Warnung in Marie nur ein armes „Weisbild“, wie sie von sich selber gerne sagt und in Woyzeck einen „hirnwütgen“ (Marie) zu  sehen und sich mit den einfachen  Einschätzungen zu begnügen.

Interpretationsversuch eines Textabschnitts aus Georg Büchners Novelle „Lenz“


Es ist ein kleiner Abschnitt, den ich gewählt habe, doch ich fand ihn äußerst interessant und erklärungsbedürftig. Eigentlich ist es für mich die geheimnisvollste Passage der Novelle Büchners und zwar durch das eine, jedoch sehr prägnante Wort, das darin vorkommt, nämlich: die Hieroglyphen. Von dem Protagonisten sogar dreifach wiederholt,  macht es aufmerksam und nachdenklich. Dabei sind Hieroglyphen hier alles andere als eine Erklärung: weder für das momentane Wohlbefinden Lenz`, noch für seine Überzeugung, dass das Mädchen, das er in der Berghütte gesehen hat, gestorben sei. Es ist eindeutig ein Begriff, es mag dem Leser sogar seltsam vorkommen und ihm den Eindruck der Entfremdung vermitteln, da er bis an diese Stelle durch die Augen des Erzählers die Umgebung Lenz` sehr sinnlich und naturnah betrachtet hatte. Wären also diese Hieroglyphen nichts Weiteres als ein Missgeschick des Schriftstellers?
 Hieroglyphen  erinnern nun an die Tausend Jahre alte ägyptische Kultur, deren Zeugen und Träger sie auch waren und die wir entziffern (wollen), um der Vergangenheit auf die Spuren zu kommen und sie von allen ihren Geheimnissen entblößen. Und selbst damals am Nilufer war die Schrift für die meisten Ägypter unlesbar. Für Lenz jedoch stellen gerade die Hieroglyphen eine Erklärung dar. Wieso schaut der Protagonist dabei zum Himmel? Was sieht er dort?  
Ich musste mich an dieser Stelle der Lektüre von Büchners „Lenz“ an Hugo von Hofmannsthal und sein „Gespräch über Gedichte“ erinnern. An einer Stelle des Gespräches zwischen  Clemens und Gabriel, wenn sie über die Schwäne in einem Gedicht diskutieren, heißt es:  „[…] Gesehen mit diesen Augen sind die Tiere  die eigentlichen Hieroglyphen, sind sie lebendige geheimnisvolle Chiffren, mit denen Gott unaussprechliche Dinge in die Welt geschrieben hat.“ Dabei beziehen sich diese Chiffren nicht ausschließlich auf die Tierwelt, sondern auf die ganze Naturwelt überhaupt. „Es sind Chiffren [meint Gabriel in dem weiteren Gespräch], welche aufzulösen die Sprache ohnmächtig ist.“ Für Lenz könnte so die Gewissheit  von dem Tode des Mädchens eine solche Art der Chiffre sein. Es erklärt jedoch immer noch nicht seine Fähigkeit diese Hieroglyphen aus der Natur zu lesen. Wieso und war überhaupt Lenz im Stande es zu tun? Oder war es gar eine seiner Einbildungen, Schöpfung der kranken Seele? Bei Hofmannsthal habe ich wieder nach einer Antwort gesucht und den folgenden Satz gefunden: „Glücklich der Dichter, dass auch er diese göttlichen Chiffren in seine Schrift verweben darf“. Es kann also sein, dass Lenz, der ohnehin auch in der Novelle Büchners indirekt als Schriftsteller vorgestellt wird, auch ein Dichter ist. Als Dichter verfügt er deshalb über die Macht die Welt anders als ein einfacher Sterblicher wahrzunehmen. Vielleicht ist aber diese Gabe zugleich ein Verhängnis und der Weg, eben einer der sinnlichen Wahrnehmung der Umgebung, muss unverzüglich in den Abgrund führen. Bei Lenz war es eine psychische Krankheit, bei Aschenbach Thomas Manns der Tod in Venedig und bei allen beiden das Gefühl der unerklärlichen Sehnsucht und Einsamkeit und das Bedürfnis aus dem bisherigen  Dasein auszubrechen. 
Die Hieroglyphen sind also die feinste Art der Schrift, mit der die Natur geschrieben wurde, durch die der Dichter (Lenz) sie empfinden kann. Diese einzigartige Empfindsamkeit versucht er an andere Menschen zu übermitteln und nicht selten bleibt er mit seinen Gedanken und Bestrebungen nicht verstanden. Manchmal verzichtet  der Dichter  gar auf jegliche Erklärung: „Es war dann nichts weiter aus ihm [Lenz] zu bringen.“